Portraits


	
						
	
	

				
			

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Ist Caft Bier die Rettung der Brauer oder doch nur ein überhyptes und schließlich nischiges Trendprodukt? Schwierige Frage. Für uns nagelt daher der Marktforscher Heinz Grüne neun Thesen ans Brauereitor. Ein Versuch, die künftige Rolle des Craft Biers in Deutschland einzuordnen.

 

Neun Thesen

1. Craft Bier hat den Blick auf eine fast unsichtbar gewordene Branche gelenkt

Etablierte TV-Marken bestimmten weitgehend den Biermarkt. Pils beherrscht mit zwei Dritteln des Absatzes die Sortenfront. Dahinter reihen sich Biermischgetränke, Weizen, Hell, Kölsch und Co. ein. Durch das Erscheinen von Craft Angeboten wurde deutlich: Es existieren viel mehr Biere jenseits von Pils, Weizen und Radler, als man jemals dachte. Oder: Der Hopfen macht nicht nur Bittere, sondern auch Geschmack.

2. Craft Bier stellt Bier in einen Kontext von Genuss und Kultivierung – und damit weg vom simplen Konsum bzw. Wirkungswunsch

Craft Biere stellen das Getränk in den Mittelpunkt. Gespräche über Bier anstatt Bier zum Gespräch. Vielfalt zum Durchprobieren statt Einfalt zum Konsumieren. Bier wird zu einem intellektuellen oder zumindest intelligenten Subjekt des Interesses. Man kann sich schlau machen, weiterbilden, Schwerpunkte setzen wie beispielsweise ‚Ich mag es eher stark hopfig‘ oder ‚Ich stehe auf Bockbier‘.

3. Mit Craft Bier wird auch die vorhandene deutsche Biervielfalt erst erlebbar und real

Zwar gibt es in Deutschland eine schier endlose Zahl von Brauereien, Bierstilen und Erzeugermarken. Diese sind jedoch zu einem sehr hohen Anteil in ihrer jeweiligen regionalen Herkunft gebunden. Dass sich mal ein Bamberger Rauchbier ins Rheinland verirrte (oder ein Kölsch retour nach Franken!) war bislang nur in extremen Ausnahmefällen möglich – und in der Gastronomie praktisch ausgeschlossen. Denn Deutschland ist trotz seiner Vielfalt an Bieren in den jeweiligen Regionen eher eine Bier-Monokultur.

Biervielfalt erlebbar
Biergenuss und Vielfalt, durch Craft Bier erlebbar gemacht (Foto: Rawpixel.com/shutterstock.com)

4. Craft Bier als Beweis einer großen Innovationskraft von Bier

Craft Bier lehrte bereits viele Bierfreunde, dass im Bier eine extrem starke innovative Kraft existiert. Ob über den Einsatz verschiedener, teilweise neuer oder importierter Hopfensorten; ob durch den Einsatz seltener Hefen oder gar Weinhefen und spezieller Brauverfahren – es lassen sich unendlich viele Geschmäcker und Nuancen aus den eigentlich sehr limitierten Grundstoffen hervorzaubern. Nicht zuletzt auch durch gezielte Gaben weiterer hochwertiger Zutaten, welche zum Beispiel Witbiere oder Gose als alte klassische Sorten auszeichnen.

5. Craft Bier psychologisch – eine andere Getränkekategorie als ‚herkömmliches Bier‘

Untersuchungen des Institutes Rheingold GmbH & Co. KG, Köln, zeigen immer wieder: Herkömmliches oder ‚normales‘ Bier wird aus ganz anderen Motiven und zu anderen Anlässen konsumiert als Craft Bier. Pils, Weizen, Kölsch und Co. werden vornehmlich als Feierabend-Belohnung und Stimmungswandler getrunken. Zu diesen Zwecken passen die hohe Verfügbarkeit, der traditionell niedrige Preis sowie der moderate Alkoholgehalt von (+/-) fünf Vol.-Prozent ideal.

Ganz anders beim Craft Bier-Konsum: Hier wird meist ganz bewusst verkostet und durchprobiert, stets auf neue Sorten, Hersteller oder Herkünfte geachtet. Höhere Preise sowie schwierige Beschaffungswege sorgen für Exklusivität und situative Limitierungen. Der häufig höhere Alkoholgehalt der Produkte wird in erster Linie nicht als Wirkungsbeschleuniger verstanden (Ausnahmen mögen hier die Regel bestätigen), sondern intensiviert den Geschmack und sorgt seinerseits für eher mengenreduzierten Genuss.

Craft Bier nicht herkömmlich
Craft Bier hebt sich von "herkömmlichem Bier" ab (Foto: MaxyM/shutterstock.com)

6. Craft Bier-Angebote richten sich also vornehmlich gar nicht an die klassischen Biertrinker, sondern vielmehr an aufgeschlossene Sinnesverwöhner

Unsere qualitativen Untersuchungen haben ebenfalls ergeben, dass klassische Feierabend- und/oder Fußball-TV-Biertrinker häufig die schlechteste Meinung (‚Hipster-Biere‘; ‚Szene-Pisse‘) und die geringste Bereitschaft haben, sich auf das Experiment Craft Bier einzulassen. Dagegen können solche Biertrinker, die generell neuen Getränke- oder Speiseangeboten aufgeschlossen gegenüber stehen, mit großer Begeisterung auf die nie endende Jagd nach neuen exotischen Craft Bier-Angeboten oder aber versteckten regionalen Bier-Perlen aufbrechen.

7. Die herkömmlichen Bier-Anbieter haben bereits jetzt von der Craft Bier-Bewegung profitiert – und erweitern ihr Angebot

Man redet dank Craft Bier wieder über Bier – und das ist schon einmal ein Erfolg für die gesamte Branche. Und zwischen völliger Ignoranz gegenüber den neuen Entwicklungen und totaler Hinwendung zum Craft Bier gibt es eine nicht kleine Grauzone solcher Konsumenten, die durchaus geneigt sind, sich situativ doch einmal auf die neuen Angebote einzulassen.

Und hier kommen die mittlerweile zahlreichen ‚near-craft‘-Abkömmlinge der etablierten Brauereien ins Spiel. Mal mehr (Craftwerk/Bitburger) mal weniger (Grevensteiner/Veltins, Krombacher Brautradition) ‚craftig‘ angehaucht, bieten sie auch dem Otto-Normal-Biertrinker Gelegenheiten, jenseits der ausgetretenen (Pils-)Pfade Bier-Innovationen bzw. die neue Sortenvielfalt zu probieren. Auch die ‚Invasion‘ der süddeutschen Hell-Biere (Augustiner, Tegernseer, Büble u.a.) in die west-, ost- und norddeutsche Bierwelt kann man in diesem Kontext als Ausdruck eines verstärkten Wunsches nach mehr Vielfalt verstehen.

8. Die letzte wirkliche Groß-Bastion gegen eine größere Biervielfalt in Deutschland: die Gastronomie

Die Bier-‚Einfalt‘ großer Teile der Gastronomie erweist sich als wahrer Hemmschuh auf dem Weg zu einer vielfältigeren Bierkultur in Deutschland. Wo man beim Wein klotzt, wird beim Bier oftmals nur gekleckert. Von Ausnahmen abgesehen (Tap-Houses, engagierte unabhängige Gastronomen), regiert in Deutschlands Kneipen- und Restaurant-Landschaft meist eine Sorten-Verkargung. Neben sehr wenigen Angeboten vom Fass – meist nur ein bis zwei Sorten, man schaue einmal nach England oder gar Belgien – gibt es auch nicht (viel) mehr Auswahl an Flaschenbieren. Diese sind in der Regel alkoholfreie oder gemixte Abkömmlinge der Fassbier-Marken. Daran mag einerseits die Brauerei-Bindung vieler Gastronomie-Betriebe, häufig aber auch die Phantasie-Armut, Unwissenheit oder Unsicherheit von Gastronomen eine Mitschuld tragen. Es droht zumindest für den aufgeschlosseneren Teil der Bier-Interessierten eine lähmende Bier-Langeweile in unseren Gaststätten. Man versäumt es, auch an dieser Stelle Signale zu setzen, dass Bierkultur in Deutschland mehr ist bzw. sein kann als die ewigen Wiedergänger Pils, Weizen und Radler oder ihre alkoholfreien Varianten.

9. Craft Bier als Kraftquelle für die etwas schlappe und hüftspeckig gewordene Bierbranche

Craft Bier kann als Katalysator oder Enzym die gesamte Bierbranche stärken und bereichern. Es geht ja gar nicht darum, treue Pils-Fans zu nötigen, auf IPA oder Imperial Stout umzusteigen. Sondern dem breiten Publikum aufzuzeigen, welche Vielfalt an Stilen, Varianten und Geschmäckern bei Bier möglich ist. Und es dem einen oder anderen schmackhaft zu machen, sich neben der gewohnten Stammsorte bzw. -marke neuen Angeboten und Möglichkeiten des Biergenusses zu öffnen.

Stammsorten
Craft Bier bietet mehr als die bekannten Stammsorten

So können neue Vorlieben (oder Abneigungen) entwickelt und damit das Getränk Bier ganz neu kennengelernt werden. Somit sieht auch die ökonomische Bilanz beim Bier endlich wieder besser aus: weniger Verramschung des Biers in immer aberwitzigeren Sonderangeboten, vielmehr Erzielung angemessener Marktpreise und erfreulicher Gewinnspannen für die gesamte Wertschöpfungskette!